Wenn andere projizieren – und du an dir zweifelst
- natashagriesser
- Jul 11
- 2 min read
Warum neurodivergente Jugendliche alltägliche Situationen oft doppelt belasten - und was sich ändern muss
Ich fahre 48 km/h in einer 50er-Zone.Alles legal. Alles ruhig. Alles unter Kontrolle.
Dann kommt mir auf der Gegenspur ein Mann auf dem Fahrrad entgegen.Als ich näherkomme, hebt er die Hand – das internationale Zeichen für: „Fahr langsamer.“
Mein erster Impuls?
– Habe ich was falsch gemacht?– War ich doch zu schnell?– Bin ich wieder zu viel?
Und plötzlich zweifle ich an mir – obwohl ich faktisch gar nichts falsch gemacht habe.
Ich merke:Dieser Mann hat Angst. Vielleicht fühlt er sich im Straßenverkehr unsicher.Aber statt sich mit seinem Gefühl auseinanderzusetzen, projiziert er es auf mich.Und mein Nervensystem – geprägt von unzähligen solchen Momenten – nimmt es auf. Gegen mich selbst.
Dieses Muster ist bekannt – vor allem für neurodivergente Menschen
Wir lernen früh, unsere Realität zu hinterfragen.Nicht, weil wir wirklich falsch liegen – sondern weil andere ihre Emotionen nicht bei sich behalten.
Wenn du neurodivergent bist, kennst du das vielleicht:Dieses tiefe, automatische Infragestellen deiner Wahrnehmung.Nicht, weil du dir selbst nicht traust – sondern weil du gelernt hast, dass andere dich oft anders wahrnehmen. Als zu schnell. Zu intensiv. Zu laut. Zu leise. Zu viel.
Die eigentliche Dynamik hinter solchen Momenten
Der Mann mit dem Fahrrad hatte vielleicht ein mulmiges Gefühl.Aber statt das bei sich zu lassen, zeigt er auf mich – mit der Hand, mit dem Blick, mit der Haltung.Und mein System reagiert sofort.
So entstehen stille Übergriffe:Nicht mit böser Absicht, sondern aus mangelnder Selbstregulation.Und sie treffen genau die, die eh schon viel Energie investieren, um irgendwie "richtig" zu wirken.
Was hier psychisch passiert
Viele reden über Resilienz, mentale Gesundheit und Prävention.Aber kaum jemand spricht über den Alltag, der krank macht.
Genau solche kleinen Momente – wieder und wieder – setzen sich fest.Gerade bei Jugendlichen, die neurodivergent sind, sensibler, wacher, durchlässiger.Sie fragen sich ständig: „Bin ich okay so, wie ich bin?“Und wenn dann noch fremde Unsicherheiten auf sie projiziert werden, verstärkt sich der innere Zweifel.
Drei Dinge, die wir dringend verstehen müssen:
Nicht jede Emotion braucht eine Handlung.Wenn du Angst hast, ist das okay. Aber klär sie für dich – nicht über andere.
Nicht jede Unsicherheit bedeutet, dass jemand anderes etwas falsch gemacht hat.Unsicherheit ist ein inneres Thema. Sie will gesehen – nicht ausgelagert – werden.
Nicht jede Reaktion ist die Verantwortung des Gegenübers.Schon gar nicht, wenn es um Jugendliche geht, die gerade dabei sind, sich selbst zu finden.
Was wir daraus mitnehmen sollten
Wenn wir wollen, dass neurodivergente Jugendliche gesund bleiben, sich entfalten und nicht mit 14, 18 oder 22 in Kliniken sitzen, dann müssen wir anfangen, über solche Alltagssituationen zu sprechen.
Nicht als Drama. Sondern als Realität.Als etwas, das sich ändern lässt, wenn wir anfangen, bei uns selbst aufzuräumen.
Wenn du mit Jugendlichen arbeitest – oder selbst einer bist:Vielleicht kennst du diese stillen, unausgesprochenen Spannungen.Vielleicht hast du sie nie benennen können. Jetzt kannst du.
Und vielleicht ist es an der Zeit, darüber zu reden.Offen. Ehrlich. Und mit Verantwortung.
Wenn dich das Thema begleitet oder du mit Jugendlichen arbeitest, für die solche Erfahrungen Alltag sind – melde dich gern.Denn genau darüber müssen wir mehr sprechen.
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